Zur Aktualität der Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik in heutiger Zeit – ein Interview

Im Gespräch mit Michael Peter Fuchs, Autor

Das Thema ist aktueller denn je: Welche Art von Bewegung brauchen Kinder, damit sie ihr inneres und äußeres Gleichgewicht (wieder)finden? Sowohl die Frage nach Zu- und Vertrauen in die eigenen Bewegungsabläufe als auch eine nicht-direktive, achtsame Begleitung, die von der Eigeninitiative des Kindes ausgeht, prägen die Spiel- und Bewegungspädagogik Elfriede Hengstenbergs. In seinem Grundlagenwerk „Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik“ erläutert Michael Peter Fuchs die didaktisch-methodischen Grundzüge der Hengstenberg-Arbeit aus der Praxis für die Praxis.“ Birgit Krohmer hat mit ihm gesprochen.

Herr Fuchs, ich bitte Sie, sich kurz vorzustellen.

Als gebürtiger Schweizer lebe ich nun schon seit vier Jahrzehnten in Deutschland in Kontakt mit der Basisgemeinde Wulfshagenerhütten Kiel. Ich half, zusammen mit meiner Frau Marie-Lou, über zwei Jahrzehnte lang beim Aufbau dieser Basisgemeinde mit, arbeitete danach wieder als Gymnasiallehrer in Kiel und Umgebung bis zu meiner Berentung im Sommer 2021; gleichzeitig arbeitete ich immer auch als Spielpädagoge nach Hengstenberg/Pikler – im Rahmen von Spielstunden mit Kindern wie als Fortbildner für Krippen, Kitas und Schulen. Meine jahrzehntelange Erfahrung damit habe ich in meinem Buch „Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik“, das 2017 im Herder Verlag erschien, dokumentiert. Auch heute noch bin ich fortbildnerisch unterwegs, schreibe und lehre am IBAF, Rendsburg, Spiel-, Bewegungs- und Religionspädagogik für angehende Heimerzieher und Heimerzieherinnen.

Wie kamen Sie zur Hengstenberg-Arbeit?

Schon in den 1980er Jahren begannen wir in der Basisgemeinde Holzspielzeug herzustellen. Im Frühjahr 1989 bekamen wir eine Einladung zu einer Ausstellung im „Haus der Kirche“ in Westberlin. Dort entdeckte uns eine Fachberaterin, die uns mit Ute Strub, der Schülerin Elfriede Hengstenbergs, bekannt machte. Im November desselben Jahres, am Tag vor dem Mauerfall (!), kam es bei einer „Vorführung“ unseres Spielmaterials in einer Kita zur ersten Begegnung mit Ute Strub. Ute Strub, die damals am Hengstenberg-Buch „Entfaltungen – Schilderungen aus meiner Arbeit mit Kindern“ arbeitete und auf der Suche nach einem Hersteller der „Hengstenberg-Geräte“ war, besuchte Anfang 1990 die Basisgemeinde und erteilte dort den Mitgliedern eine mehrtägige Einführung in die Hengstenberg-/Pikler-Arbeit. Deren Offenheit bezüglich der Pädagogik einerseits und deren Werkstatt-Knowhow andererseits gaben wohl den Ausschlag, dass Strub der Basisgemeinde die Produktion der Hengstenberg-Geräte anvertraute. In den darauf folgenden Jahren ging es für uns zum einen um die Produktion und Entwicklung der Hengstenberg-Geräte nach heutigen Sicherheitsstandards, zum anderen um die eigene Aus-/Weiterbildung zum Hengstenberg-Spiel-/Bewegungspädagogen und zum dritten um die Weitergabe der Hengstenberg-Philosophie an die Kita-Teams im Rahmen von deutschlandweiten „Projekten“. Verbunden mit der Frage, ob die „Hengstenberg-Arbeit“ in der Kita-Welt Fuß fassen kann oder nicht. Ich empfinde es als Privileg, von Anfang dabei gewesen zu sein.

Was ist das Besondere am „Hengstenberg-Spiel“, dieser Begriff wurde von Ihnen geprägt?

Vorweg: In der Hengstenberg-Pikler-Gesellschaft e.V., deren Mitglied ich bin, kursieren verschiedene Begriffe wie z.B. „Hengstenberg-Arbeit“, „Hengstenberg-Parcours“; „Bewegungsarbeit nach Hengstenberg“ etc. Ich verwende daneben auch gerne den Begriff „Hengstenberg-Spiel“, weil wir uns ja mit „Hengstenberg“ hauptsächlich im Kita- und Krippen-Bereich aufhalten, wo das Spiel die tägliche „Arbeit des Kindes“ ist.

Nun zu der Frage, worin das Besondere des „Hengstenberg-Spiels“ bestehe. Ein paar Aspekte: Die „Hengstenberg-Materialien“ (Balancierstangen, Rutsch- und Wackelbrett, Kletter- und Balanciergerät, Mittelholmleiter, kleine und große Spielleiter, Spielhocker – genauso wie das „Bodenmaterial“: Kippelhölzer, Bau- und Balancierbrettchen, Vierkanthölzer etc. – laden die Kinder ein, ins Kriechen, Krabbeln, Klettern, Rutschen, Hangeln, Balancieren usw. zu kommen. Dadurch kommt es zu einer Ent- bzw. Nachentfaltung ihrer Bewegungsentwicklung, die, wie wir wissen, der Schlüssel für eine gesunde Persönlichkeits- sprich: Gehirnentwicklung ist. Gleichzeitig fordern die Aufgaben, die die Hengstenberg-Geräte und -Materialien darstellen, die Kinder dazu auf, ganz präsent zu sein, das heißt, in Beziehung zu sein mit dem, was sie gerade tun. Sind sie es nämlich nicht, können sie die „Aufgaben“, die vor allem ihren Raum- und Gleichgewichtssinn herausfordern, nicht wirklich lösen. Doch da der Spiel- und Aufforderungscharakter der Hengstenberg-Materialien enorm hoch ist und wir anhand einfacher „Prinzipien“ (Spiel-Regeln) darauf achten, dass wir unser Tun nicht bewerten, macht es den Kindern immer wieder Freude, sich mit den Materialien auseinanderzusetzen. Und diese steigert sich automatisch, wenn die Kinder „es geschafft“ haben, wie sie gerne sagen.

Warum lernen Kinder beim „freien Spiel“ am besten?

Für mich ist das „Hengstenberg-Spiel“ eine nötige und wichtige Facette im Rahmen des „freien Spiels mit allen Sinnen“. Doch dieses muss, wie ich schon lange beobachte – unter dem gesellschaftlichen Druck der leider in Schieflage geratenen „Bildungsdiskussion“ – immer mehr der schleichenden Verschulung unserer Kitas weichen. Dabei ist das „freie Spiel mit allen Sinnen“ der von der Natur vorgegebene beste Weg zu lernen. Warum?

  • Allein schon die Beschreibung der Tätigkeit „Spielen“ als Entdecken, Forschen, Explorieren, Experimentieren, den Dingen auf den Grund gehen, Erfahrungen sammeln in Interaktion mit der „Welt“, Ausprobieren, um herauszufinden, wie etwas funktioniert usw. macht deutlich, worum es geht: um den Zusammenhang von Spielen und Lernen. Spielen ist Lernen und Lernen, also Spielen, ist ein Grundmerkmal alles Lebendigen, also ganz natürlich. Wir können das im Tierreich genauso gut beobachten wie bei uns Menschen. Manche Spielforscher und -praktiker (wie Fred Donaldson, Michael Mendizza) weiten ihren Blick noch darüber hinaus, wenn sie beobachten: Die Essenz der Wissenschaft ist Spiel. Jedes Kunstwerk beginnt im Zustand des Spiels. Jede Erfindung in der Geschichte der Menschheit beginnt mit dem Spiel. Je mehr Intelligenz, desto mehr Spiel. Und umgekehrt. Zone nennen Spitzensportler den Zustand, in dem sie Höchstleistungen wie von selbst erreichen. Psychologen nennen diesen optimalen Leistungszustand Flow. Kinder nennen ihn Spiel. Spiel ist keine Spielerei, sondern der natürliche Zustand, in dem Kinder optimal lernen können.

Tatsächlich sind die Kinder von Natur aus Entdecker, Forscher, das heißt, Lernende=Spielende. Beim Spielen=Lernen sind sie mit Begeisterung dabei, bringen sich mit Leib, Seele und Geist ein, lösen die selbst gestellten Aufgaben auf ihre je individuelle Art und Weise, machen Erfahrungen von Gelingen und Scheitern, lernen aus ihren „Fehlern“, entwickeln so ihre Kreativität und Fantasie (die wichtigste Geisteskraft, die uns hilft, Probleme zu lösen) weiter, eignen sich Wissen (über sich selbst, über die Mitwelt, über die Natur der Welt) und Können (Handlungskompetenzen, Frustrationstoleranz und Risikokompetenz etc.) an. Spielende=lernende Kinder sind glückliche Kinder, weil sie ihre natürlichen Grundbedürfnisse (Entdeckerfreude, Gestaltungslust, Sicherheit und Geborgenheit) ausleben können.

Im Übrigen: Diese skizzierten Zusammenhänge werden nicht nur in der Spielpädagogik bzw. in der Psychomotorik-Arbeit wahrgenommen, sondern werden von der Neurobiologie (z.B. Gerald Hüther) bestätigt.

Was können die Erwachsenen tun, um in diesem Zusammenhang eine „günstige Umgebung“ für die Kinder zu sein?

Eine zentrale Frage, finde ich. Denn wenn wir als Eltern, aber auch als professionelle Begleitperson von Kindern, nicht achtsam sind, kann es schnell passieren, dass wir diesen natürlichen Zusammenhang von Lernen und Spielen, von Ausleben natürlicher Grundbedürfnisse und Glücklichsein durchbrechen, ohne dass uns dies vielleicht so bewusst ist. Tatsächlich aber geschieht genau dies, wenn wir Erwachsenen meinen, Kinder belehren, ihnen sagen zu müssen, wie dies oder jenes funktioniert, oder ihnen etwas beibringen wollen, was Kinder im Moment gar nicht interessiert; wenn wir etwa „schönes Spiel“ einfordern, oder wenn wir unsere Erfahrungen über Kinder stülpen und unsere Erwartungen, Wünsche, (Bildungs-)Pläne auf unsere Kinder projizieren. So werden Kinder, die von Natur aus Subjekte sind, unter der Hand zu Objekten von manipulierenden, besserwisserischen Erwachsenen. Doch das schafft kein Klima, in welchem Kinder gedeihen, sich entfalten, stark werden, Selbstbewusstsein erlangen. Ganz im Gegenteil.

Was können die Erwachsenen tun oder lassen, um „freies Spiel“ zu ermöglichen?

Ja, ziehen wir aus den oben genannten grundsätzlichen Aussagen zu unserer Rolle als Eltern oder erwachsene Begleitpersonen entsprechende positive Schlussfolgerungen:
1. Machen wir uns den Zusammenhang von Spielen und Lernen bzw. die Bedeutung des Spielens für das Lernen wieder bewusst.
2. Geben wir den Kinder ihre Kindheit zurück.

3. Respektieren wir die Natur des Kindes, die spielen will.

4. Achten wir das Kind als Persönlichkeit, als Subjekt von Anfang an, das sich selbständig entfalten und seine eigene Geschichte schreiben möchte und muss.

5. Hören wir auf, die Kinder belehren zu wollen und ihnen dauernd zu sagen, was sie tun sollen, wie sie spielen sollen und was sie wissen sollen, sondern lassen wir sie selber entdecken.

6. Achten wir auf das Recht des Kindes, spielen zu können und lassen wir sie wieder spielen.

7. Schaffen wir Spiel-Räume („vorbereitete Umgebungen“) zuhause, in Krippen und Kitas, aber ebenso auf Spielplätzen, in denen Kinder frei und ungestört spielen, wo sie ihre Entdeckerfreude ausleben und spielend – allein oder zusammen mit anderen Kindern – ihren (Bildungs-)Interessen nachgehen, mit vorhersehbaren Gefahren umgehen lernen, Erfahrungen sammeln und aus Fehlern, Missgeschicken lernen – sich weiterbilden – können. Übrigens: Beulen, Schrammen, Schürfungen etc. gehören zum freien Spiel mit allen Sinnen ebenso dazu wie eine dreckige oder zerrissene (Spiel-)Hose.

Sowohl in der Pikler- als auch in der Hengstenbergs Spiel- und Bewegungspädagogik steht die Stärkung der Persönlichkeit durch sich selbst gestellte Aufgaben im Zentrum. Gibt es Unterschiede? Ist die Piklerpädagogik für die Kleinen und „Hengstenberg“ für die etwas älteren Kinder?

Zunächst das Gemeinsame: Die Spiel- und Bewegungsansätze der beiden großen Pädagoginnen Emmi Pikler (1902–1984) und Elfriede Hengstenberg (1892–1992) ergänzen einander kongenial, weil sie miteinander zentrale Aspekte eines Menschenbildes teilen, das sich an den natürlichen Lebensprozessen orientiert: Beide haben einen ganzheitlichen Blick auf das Kind, seine Lebenswirklichkeit und seine Interessen; beide haben die Bedeutung einer selbstständigen Bewegungsentwicklung für eine gesunde Persönlichkeitsentfaltung erkannt; beide haben beobachtet, dass die Bewegungsentwicklung in der spielerischen Auseinandersetzung mit den gestellten Aufgaben – im „freien Spiel“, wie Pikler sagt – am besten gelingt. Der Unterschied beider Spiel- und Bewegungsansätze liegt vor allem im Bezug auf die Altersstruktur der Kinder, will heißen: Die Pikler-Spiel- und Bewegungsmaterialien eignen sich für Babys, Kleinstkinder, Krippenkinder; die Hengstenberg-Materialien, aufgrund ihrer Größe, für Kinder im Elementarbereich, ja bis in den Schulbereich hinein. Wobei festzustellen ist, dass Pikler-Kids mit zwei bis drei Jahren, also noch im Krippenalter, bereits ein natürliches Interesse an größeren Herausforderungen haben und die Fähigkeiten mitbringen, sich erfolgreich mit einigen der Hengstenberg-Materialien auseinanderzusetzen. Der Übergang ist also fließend.

Wie hat sich Kindheit verändert, sind die „Pikler-Hengstenberg-Ansätze“ noch aktuell?

Ja, mehr denn je. Wie wir alle wissen, hat sich Kindheit von damals und heute stark verändert – auch und gerade im Zusammenhang, über den wir hier sprechen. Gehörte für frühere Generationen die Erfahrung des freien Spiels mit allen Sinnen und das Spiel mit anderen Kindern noch „automatisch“ zur Kindheit, ist das heute, aufgrund veränderter Aufwachsbedingungen, nicht mehr der Fall. Die Folgen für Kinder von heute sind gravierend. Rückmeldungen aus drei Bereichen bestätigen dies:

1. Die Kinderärzte diagnostizieren, dass die motorischen Fähigkeiten bei vielen Kindern abgenommen und dass die Koordinationsschwierigkeiten zugenommen haben; sie beobachten Defizite bei Ausdauer und körperlicher Leistungsfähigkeit, mangelnde Beweglichkeit, Haltungsschäden, Schwierigkeiten beim Balancieren und Rückwärtslaufen vieler Kinder usw.

2. Die Unfallkassen stellen eine Zunahme an schweren Unfällen in Kitas und Schulen fest, wobei unter „schweren Unfällen“ vor allem Kopfverletzungen fungieren. Doch diese müssten gar nicht sein, wenn die Kinder fallen könnten.

3. Lehrkräfte – ich selber auch – machen die Erfahrung, dass überproportional viele Kinder einer Klasse „Verhaltensauffälligkeiten“ zeigen, und zwar aufgrund der Tatsache, dass ihnen Grundkompetenzen wie Neugierde, Intentionalität, Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Reflexion, Integration, Selbstbeherrschung, Kooperationsfähigkeit etc. fehlen oder nur teilweise vorhanden sind. Doch diese wären wichtig, befähigen erst sie doch Kinder zum Lernen und zum Leben. Ursachen für diesen Kompetenz-Mangel liegen – in Bezug auf den Kontext, um den es hier geht – in den mangelnden Spiel- und Bewegungserfahrungen unserer Kinder von heute.

Bestätigt wird dieser traurige Befund gerade jetzt wieder: In den „Kieler Nachrichten“ vom 17.06.24 ist auf der Titelseite zu lesen: „Vielen Kindern fehlt vor der Einschulung die soziale Reife. Ärzte stellen bei angehenden Erstklässlern in Schleswig-Holstein zunehmend Probleme fest.“ Im Artikel heißt es weiter: „Zur sozial-emotionalen Reife gehöre es, Konfliktlösungsstrategien zu beherrschen. Die Fähigkeit, sich an Regeln zu halten, einem Erwachsenen zuhören zu können, eigene Bedürfnisse zurückstellen..“. (..) „Vielen Kindern falle es schwer, sich zu konzentrieren. Sie zeigten motorische Unruhe und erhöhte Reizoffenheit (..), würden sich leicht ablenken lassen.“ Gründe dafür: „möglicherweise eine Spätfolge der Covid-19-Pandemie“, „im Elternhaus, im hohen Medienkonsum und in den Engpässen bei der Kita-Betreuung“, „mangelnde Bewegung, unzureichende Schulung der Sinneswahrnehmung sowie Reizüberflutung“.

Ich frage mich, was muss noch alles passieren beziehungsweise diagnostiziert werden, bis wir bereit sind, uns einzugestehen, dass wir, was die aktuell vorherrschende Art der Erziehung/Begleitung unserer Kinder betrifft, in einer Sackgasse gelandet sind, und es höchste Zeit ist, „umzukehren“, will sagen: sich darum zu kümmern, dass Kinder von heute wieder eine artgerechte Kindheit erleben können/dürfen, in der selbstverständlich das freie Spiel mit allen Sinnen, allein und mit anderen Kindern, im Vordergrund steht.

Was wäre anders, wenn das 2017 erschienene Buch: „Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik: Pädagogische Ansätze auf einen Blick“ heute geschrieben würde?

Da, wie eben dargelegt, die Pikler- und Hengstenberg-Arbeit aktueller denn je ist, lässt sich das Gleiche auch von meinem „Hengstenberg-Buch“ sagen – ein Buch aus der Praxis für die Praxis. Es liegt heute in der dritten Auflage vor, was die Tatsache seiner Aktualität unterstreicht. Schon damals hätte ich mir gewünscht mehr Raum zu haben, um noch mehr Entfaltungsbeispiele seitens der Kinder und erwachsenen Begleitpersonen aufnehmen zu können. Doch 2017, als das Buch erschien, gab der Herder Verlag die Seitenzahl vor, weil er mein „Hengstenberg-Buch“ in die Reihe „Pädagogik auf einen Blick“ aufnehmen wollte. Ich willigte ein, weil ich in diesem Angebot die Chance sah, dass die Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik auf diese Weise endlich in eine Reihe mit anderen großen pädagogischen Bewegungen und Persönlichkeiten wie z.B. Montessori, Waldorf, Reggio etc. zu stehen kam, wozu es auch höchste Zeit war.

Gleichwohl: In einem heutigen „Hengstenberg-Buch“, wenn es denn ein Verlag ermöglichte, würde ich erstens darstellen, dass es nicht den EINEN Hengstenberg-Ansatz gibt, sondern eine Vielfalt von Heran- und Vorgehensweisen – je nach Individualität der Person, die mit „Hengstenberg“ unterwegs ist. Bei mir zum Beispiel steht , weil ich mich in erster Linie an die Kita-Welt richte, das Spiel, das Spielerische der Hengstenberg-Arbeit im Vordergrund, bei anderen mehr die „Hengstenberg-Bewegungsarbeit“, die Gymnastik. Zweitens wäre anhand von eindrücklichen Beispielen von Entfaltungsprozessen von Kindern darzulegen, wie segensreich die „Hengstenberg-Arbeit“ auch im therapeutischen Bereich, in Ergotherapie, Krankengymnastik etc. wirksam ist. Und drittens würde ich die zentralen Anliegen der Pikler-/Hengstenberg-Spiel- und Bewegungspädagogik“ mit wichtigen Themen des heutigen gesellschaftlichen Diskurses verknüpfen, um die Aktualität dieses ganzheitlichen pädagogischen Ansatzes heutigen Eltern und Erzieherinnen und Erziehern bewusst zu machen. Nehmen wir zum Beispiel das heutige Bewusstwerden, dass Demokratie kein Selbstläufer ist. Nach Pikler/Hengstenberg achten wir von Anfang an das Baby, das Kleinstkind als Persönlichkeit, der wir auf Augenhöhe begegnen, als Subjekt, das wir nicht (von oben herab) belehren und damit zum Objekt machen, sondern sich – in vorbereiteter Umgebung im freien Spiel mit allen Sinnen – als Subjekt entfalten lassen. Es geht also, pädagogisch gesehen, um Persönlichkeitsentfaltung von Anfang an und nicht um das schleichende Heranzüchten von Befehlsempfängern. Genauso verhält es sich mit weiteren relevanten gesellschaftlichen Themen wie Bildung, Digitalisierung, Diversivität, „Green Deal“-Bewusstsein und Menschenrechte/Kinderrechte etc. Auch in deren Kontexten lassen sich Didaktik und Methodik der Pikler-/HengstenbergArbeit profilieren. Ich bin mir da so sicher, weil ich diese „Verknüpfungsarbeit“ in meinen Kursen schon lange praktiziere.

Wie kamen Pikler und Hengstenberg zusammen?

Einem Zufall ist es zu verdanken, dass sich Elfriede Hengstenberg (1892–1992) und Emmi Pikler (1902–1984) in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts in Budapest, wo Pikler wirkte, begegnet sind. Pikler lud Elsa Gindler (1885–1961), eine deutsche Pionierin der somatischen Körperarbeit und Gymnastiklehrerin, zu Erwachsenenkursen nach Budapest ein. Doch weil Gindler verhindert war, schickte sie an ihrer Stelle Elfriede Hengstenberg, ihre Schülerin und Freundin, zu Emmi Pikler. Mit Erfolg. Denn auch in den folgenden Jahren gab Hengstenberg Erwachsenenkurse in Budapest. Zwischen Pikler und Hengstenberg entstand eine Freundschaft und eine pädagogische Zusammenarbeit. Diese erfuhr ihre Fortsetzung in der Freundschaft und Zusammenarbeit der Nachfahren Hengstenbergs und Piklers: Ute Strub auf Seiten Hengstenbergs und Anna Tardos auf Seiten Piklers. Nur konsequent, dass der vor 20 Jahren von Strub mitbegründete Verein „Hengstenberg-Pikler-Gesellschaft e.V.“ heißt.

Zur Lektüre: Michael Peter Fuchs, Hengstenberg Spiel- und Bewegungspädagogik: Pädagogische Ansätze auf einen Blick, Herder Verlag, Freiburg, 2017

Quelle: Newsletter Juli 2024 von Birgit Krohmer, Vereinigung der Waldorfkindergärten